Recherche:Eine Schriftstellerin muss auch mal Opfer bringen!

Im Rahmen der Recherche für meinen Glückstadtroman habe ich mich im November 2018 mit dem Thema Windenergie beschäftigt. Hier in der Gegend gibt es Windparks wie Sand am Meer, es mangelt also nicht an Anschauungsmaterial. Meine Anfrage nach einem Gesprächstermin wurde Anfang Dezember direkt mit einer Gegenfrage beantwortet: „Willst du mal auf so eine Windenergieanlage rauf?“

Ich: „Oh. Das wäre ja der Hammer! Geht das denn?“

Tobias: „Ja klar, Dienstag habe ich eine Besuchergruppe. Da kannst du mitkommen. Zieh dich warm an, ist kalt da oben.“

Ich: „Cool!“

Damit war der Termin abgemacht. Wenig später ging mir die „Aufstiegserklärung“ per Mail zu, ein Haftungsausschluss, mit einigen Infos, worauf zu achten ist.

Da wurde mir bewusst, was auf mich zukommen würde: Ein Aufstieg in einer Stahlröhre über Leitern in 72 Meter Höhe.

Oha!

Und oben freier Blick in die norddeutsche Landschaft, denn die Anlage, die wir besichtigen würden, würde aufgeklappt sein. Mir wurde mulmig zumute.

72 Meter sind ein Witz, wenn sie horizontal vor einem liegen, aber vertikal? Schluck! Das ist verdammt hoch!!! Und ich da oben? Ohne Seil. Einfach so. Ohauaha!

„Du bist vollkommen bekloppt!“, zeterte prompt mein Verstand. „Erinnere dich mal an das Ehrendenkmal in Laboe! Als du dort hoch gerannt bist, konntest du im Treppenhaus nicht nach unten gucken. Du Angsthase hast bloß deine Kamera am langen Arm über die Brüstung gehalten und blind abgedrückt. Und im Herbst im Hochseilgarten? Was war da los? Ich sag es dir: Dein Herz hat bei sechs Metern zu flattern angefangen. Von der Ameisenkolonie in deinem Magen mal ganz zu schweigen… Willst du echt eine Windmühle hochklettern?!“

„Nee!!! Bloß nicht“, jammerte mein Bauch.

Doch mein Schriftstellerherz blieb hart. „Man muss auch mal Opfer bringen. Sei keine Memme. Rauf da!“

So taff ich mich nach außen gab, so nervös wurde ich innerlich, je näher der Dienstag rückte. Tapfer packte ich meine Sachen. Ihr wisst ja, ich bin eine Frostbeule, also lieber Zwiebeltechnik mit Rollkragen, dazu Mütze, Handschuhe, Winterstiefel, etc. und das alles in alt, weil es dreckig werden oder kaputt gehen könnte. (Darauf wurde ich mehrfach von Tobias hingewiesen.)

Verstand: „Alter, wenn die Klamotten kaputt gehen, was ist dann mit der Person, die IN den Klamotten steckt? Willst du das wirklich machen?“

Ich: „Ja, ich will da hoch. Und jetzt Klappe, ich bin auch so schon aufgeregt genug.“

Johanna VOR dem Aufstieg. Noch kann sie lächeln!

Um halb eins rollte ich bei dem Windparkbetreiber auf den Parkplatz und staunte. Wow! Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass das Unternehmen so groß war. Das Staunen ging die nächste Stunde weiter, denn Tobias führte mich durch verschiedene Abteilungen und ich durfte ihn mit all meinen Fragen löchern. Schließlich wurde es ernst. Tobias inspizierte meine Aufstiegsklamotten und meinte kritisch: „Glaubst du, die Sachen sind warm genug?“

Ich: „Das ist meine alte Winterjacke. Was Wärmeres habe ich nicht.“

Tobias grinste lässig. „Na, denn muss es reichen.“

Eine halbe Stunde später stieg ich am Besichtigungsort aus dem Auto und beäugte mit klopfendem Herzen mein Ziel. Verdammt! Die 72 Meter waren noch viel höher, als ich gedacht hatte.

Verstand: „Das schaffst du nie! Und wenn doch, machst du dir vor Angst in die Hose.“

Ich: „Ja, vermutlich.“

Versuchen wollte ich es trotzdem.

Also Johanna, tapfer lächeln und Sicherheitsgeschirr anlegen!

Zur Info: Das Sicherheitsgeschirr ist nicht dazu da, um beim Aufstieg oder oben angeseilt zu werden. Unsere Windenergieanlage (WEA) hatte nämlich keine durchgehende Leiter, sondern lediglich überschaubare Sechs-Meter-Stückchen, die von einer Plattform zu nächsten führten.

Verstand: „Hallo! SECHS!!! Meter! Das sind doch keine Stückchen!!!“

Das Sicherheitsgeschirr ist nur dafür da, damit besser geholfen werden kann, falls einem etwas passiert.

„Na, da bin ich ja beruhigt.“

Mein Verstand war mal wieder sarkastisch. Ich ignorierte ihn. Schließlich wissen die Jungs vom Windpark hier, was sie tun.

Das Anlegen des Geschirrs klappte problemlos; Helm auf die Mütze, Handschuhe an, professionelle Kontrolle durch zwei Mitarbeiter und los. Tobias führte unsere Gruppe durch eine Art U-Boot-Luke in den Fuß der WEA. Mein Blick schweifte sofort bang zur Plattform, die die Stahlröhre bis auf den schmalen Leiterdurchlass komplett verschloss.

Hier seht Ihr eines der Segmente. Die Leiter ist senkrecht an der Stahlwand montiert. Daneben könnt Ihr die dicken Stromkabel erkennen. Ganz links liegen noch andere Leitungen, darunter auch ein Datenkabel, das Informationen in die Zentrale liefert und über welches die Anlage ferngesteuert werden kann.

Mein Verstand analysierte: „Sechs Meter sind machbar. Die Höhe wirst du gar nicht merken.“

Ich atmete auf und Tobias erklärte, worauf es beim Leiter hochklettern ankommt.

He! Hör auf zu grinsen! Ja, du bist gemeint, lieber Leser! Da kann man sich echt fiese die Knie stoßen, denn diese Leitern sind nicht schräge angelehnt, sondern stehen senkrecht.

Dann ging es aufwärts. Tobias voran, danach die vier Besucher und am Schluss die todesmutige Schriftstellerin, also ich. Die einzelnen Segmente sehen alle gleich aus: Stahlröhre ohne Fenster, aber mit Licht und einigen armdicken Kabeln am Rand sowie der senkrecht befestigten Leiter. Freundlicherweise hatte jemand die Plattformen nummeriert. Also wusste ich immer, wie viel schon hinter mir lag und wie viel noch vor mir. So ein Glück! Obwohl ich nicht gerade eine Sportskanone bin, klappte das mit dem Klettern so gut, dass ich auf den Plattformen noch ein paar Bilder für Euch schießen konnte. Schaut mal: Das sind mal Schrauben, was? Mit solchen Kaventsmännern werden die einzelnen Röhren miteinander verbunden.

Ab Plattform drei stellte sich Routine beim Leiternsteigen ein. Der Durchmesser der Röhre verjüngte sich stetig, aber nicht besorgniserregend. Alles war gut, bis mein Magen bei Plattform fünf ein gewisses Schwanken meldete.

Verstand: „Boa! Ja, logisch. So ein Ding bewegt sich. Das ist NICHT gut! Dir wird bereits auf einem fest im Hafen verankerten Hausboot übel.“

Ich: „Klappe! Das bildest du dir bloß ein.“

Auf Plattform sieben meinte die junge Frau vor mir ebenfalls das Schwanken zu bemerken. (Das Innenohr, welches fürs Gleichgewicht zuständig ist, ist erst ab Anfang/Mitte zwanzig vollständig ausgebildet. MEINES ist mit 42 schon sowas von ausgebildet! Seufz. Deswegen mache ich um Achterbahnen und Co seit zwanzig Jahren einen großen Bogen.)

Verstand: „Ich hatte recht!“

Ich: „Ja, schön für dich. Denk nicht drüber nach, sonst wird mir schlecht.“

Verstand: „Witzbold. Haha.“

Ich grinste nur und nahm die nächste Leiter in Angriff.

Plötzlich wurden die Kabel nicht mehr an der Wand entlang geführt, sondern direkt durch ein Loch in der Mitte der Plattform. Tobias erklärte uns, dass dies zwingend nötig sei, damit sich der Kopf der WEA in den Wind drehen könne. Die Verkabelung in der Mitte würde drei komplette Umdrehungen zulassen, dann müsse wieder in die andere Richtung gedreht werden.

Interessant! Aber auch beängstigend, denn der Kabelbaum bewegte sich im Loch deutlich sichtbar hin und her. Das Schwanken war real und nicht gerade unerheblich!

Uarks!

Mein Puls beschleunigte sich, der Magen wurde rebellisch. Doch ich war fast oben. Aufgeben kam nicht in Frage.

Durchatmen, Johanna, und rauf da!

Gesagt, getan. Ein paar Leitern und Luken später, stand ich tatsächlich im aufgeklappten Maschinenhaus der WEA. Ich beschloss, nicht über die Höhe nachzudenken, sondern zu gucken. Und gucken konnte ich! WEIT! Die Sonne schien, der Wind wehte. Es war der Hammer!

Ich hör mal auf zu sabbeln – schaut Euch die Bilder an!

Hier seht Ihr das aufgeklappte Dach der Windenergieanlage und den Auslegerkran. Über den Kran werden Werkzeug und kleinere Ersatzteile heraufgeholt. Ohne ihn müssten die Mitarbeiter alles über die Leitern hochschleppen. Ich kann Euch versichern, dass der Aufstieg auch ohne Gepäck schon anstrengend genug ist! Im Notfall können mit dem Kran auch Menschen abgeseilt werden.

 

Die winzigen schwarzweißen Flecken auf der Wiese sind übrigens Kühe.

 

Oh, Mann! Was hatte ich für ein Glück mit dem Wetter!

 

Von hier oben sehen die Straßen so winzig aus.

Nach ein, zwei Minuten wurde ich mutig. Tobias sagte, wir dürften in die Klappen der Windmühle klettern und uns von dort aus umsehen.

Ja, sicher. Prust!

Aber wo ich schon mal hier oben war, tat ich es einfach. Und nein, ich war nicht gesondert angeseilt. Das ist in diesem Typ Anlage nicht notwendig, da man von hier aus nicht fallen KANN. Zum Glück beschloss mein Verstand, nicht über Material oder Befestigung der Klappen nachzudenken und so konnte ich meinen Aufenthalt tatsächlich genießen und sogar ein bisschen knipsen. (Als ich mich geringfügig Richtung Rand beugte, bekam ich dann aber doch Herzklopfen! Grins. Also schnell zurück.) Was für ein großartiger Ausblick, was für ein Erlebnis!

Sautief! Das „Unten“ ist hier oben echt ganz schön weit weg!

 

Johanna – stolz wie Bolle!

 

DAS ist für mich Heimat! Wow. Hier oben fühlt man sich unfassbar frei.

Tobias erklärte uns die Komponenten der WEA und erzählte einiges über Leistung, Kosten und Auslastung der Anlage. Ich finde es erstaunlich, welche Riesenmengen Strom man mit dieser Maschine (AN-Bonus 1,3 MW – heute Siemens) erzeugen kann. Als Beispiel: Die Anlage, auf der ich war – und das ist noch eine von den Kleinen – muss nicht einmal drei Stunden unter Volllast laufen, um den Jahresverbrauch meiner Familie zu erwirtschaften. Und das ganz ohne Radioaktivität oder Treibhausgase!

Schließlich lächelte Tobias und fragte: „Na, wollen wir die Dame mal anschmeißen?“

Anschmeißen? Oha! Bislang hatte sich hier oben nichts bewegt. Die Besucher und ich nickten verhalten und wir suchten uns einen Platz unten neben dem Generator.

„Nicht erschrecken!“, meinte Tobias. „Gleich fängt es an zu wackeln und laut wird es auch.“

Oh, oh! Ob ich das hinbekomme?

Alles begann zu vibrieren und plötzlich drehte sich der Kopf der WEA.

„Sie richtet sich aus“, erklärte Tobias ruhig. „«Yawlen» nennen wir das. Ab mit der Nase in den Wind!“

Aha. Das Yawlen ist ok. Und nun?

Sirrend kam Leben in die Rotorblätter.

„Jetzt «pitcht» sie.“ Tobias deutete auf einen der 29 Meter langen Flügel. „Das heißt, sie dreht die Blätter so, dass der Wind mehr Fläche bekommt, um sie anzutreiben.“

Die Besucher und ich nickten mit großen Augen. Das Vibrieren und Brummen konnten wir in unseren Knochen spüren.

„Würden wir jetzt die Bremse lösen, würde die Nabe langsam zu drehen beginnen“, kommentierte Tobias. „Dann würden wir Strom erzeugen. Der Wind weht aktuell bloß mit sechs Metern pro Sekunde.“ Er lächelte beruhigend. „Damit sind wir noch eine ganze Ecke von Volllast entfernt. Ab zehn Metern pro Sekunde wird es für uns interessant, bei 20 macht es Spaß…“

Spaß?! Echt jetzt?!

„… und bei 25 schaltet die Anlage aus Sicherheitsgründen ab.“

Ach so. Na, denn ich bin ich ja beruhigt – meine Herren, was bin ich froh, dass heute nur so ein laues Lüftchen weht!

Ich hielt mich am Ölfilter fest und beobachtete: die Anlage, die anderen Besucher, die Rotorblätter, deren Spitzen sich auffällig im Wind bewegten, sowie das Vibrieren des Maschinenhauses. Und ich nahm wahr, was das alles mit mir anstellte. Mein Puls war eindeutig fixer unterwegs als sonst. Mein Magen hatte sich vorsichtshalber aus der Veranstaltung ausgeklinkt und nun dachte mein Gehirn doch darüber nach, dass diese dünnen Stahlärmchen, die die Klappe hielten, in der ich gerade saß, eigentlich recht mickrig waren.

Blöder Gedanke! Och nö!

Aber er war nicht mehr aufzuhalten. Mir wurde klar, dass ich mich 72 Meter über dem Boden befand. Ein Absturz wäre garantiert tödlich. Was, wenn die Klappe sich plötzlich Richtung Wiese verabschiedete?

Ohauaha!

Mein Verstand wusste, dass so etwas nicht passieren KONNTE, aber mein Bauch meinte, ich solle mich lieber mal nach vorn Richtung Generator beugen.

Besser ist das!

Offenbar schauten auch die anderen Besucher nicht mehr ganz so entspannt aus ihren Winterjacken, nur Tobias grinste lässig. „Na, reicht es?“

Kollektives Nicken.

„Denn wollen wir mal wieder runter.“

Ja, bitte!

Als die Rotorblätter wieder in Parkposition waren, verschwand das mulmige Gefühl und mein Lächeln kehrte zurück. Der Abstieg war ein Kinderspiel.

Sechs Meter sind gar nicht so wenig, wenn man runterguckt.

Wieder am Boden lief die WEA dann richtig an. Langsam begann die Nabe zu rotieren. Einer der Flügel kroch über unseren Köpfen gemächlich vorbei.

„Keine Sorge, das wird gleich schneller.“ Tobias lachte.

Nee. Dass es zu langsam gehen könnte, machte mir keine Sorge. Eher das Gegenteil. Der Windmühle war es egal. Sie kam nach und nach auf Touren.

Hier zeigt uns Tobias eine eine Sicherung.

Wusch. Wusch! WUSCH! Geräuschvoll rauschten die Rotorblätter über uns durch die Luft.

„Achtung!“, kündigte Tobias an. „Gleich dürfte der Generator seine Arbeit aufnehmen.“

 

Oha! Immer ungeduldigere Flügel, die schneller und schneller über uns hinweg hetzten. Meine Güte, wenn man eine WEA aus der Entfernung beobachtet, drehen sich die Dinger doch immer so gemütlich. Wieso kommt einem das hier so verflixt fix vor?

Das Geräusch des Generators war nicht zu hören, aber das Zischen der Rotorblätter, die den Wind durchschnitten, beeindruckte mich nachhaltig – von der Rotationsgeschwindigkeit ganz zu schweigen.

Schließlich zeigte Tobias uns noch einige Komponenten, die für eine WEA Bedeutung haben. Leute, ich sage Euch, hier ist alles ‘ne ganze Ecke größer als wir es in unserem Alltag gewohnt sind.

Danach ging es wieder zurück zum Firmensitz, wo ich noch einiges an Infomaterial und Antworten auf meine Fragen bekam. Um halb sechs verabschiedete ich mich von Tobias mit einem Kopf voller beeindruckender Bilder und eisig kalten Füßen. (Ja, trotz Winterklamotten – aber das war es mir echt wert! Zum Aufwärmen gibt es schließlich die Sauna, grins.)

Mann, dieser Besuch war der Hammer!

 

Johanna ist glücklich: Manche Dinge muss man selbst erleben, um sie richtig zu verstehen!

Herzlichen Dank an Tobias! Ich habe so viel gelernt und mit allen Sinnen erfahren. So etwas kann man sich nicht anlesen, so etwas muss man erleben. Großartig, dass Du das für mich möglich gemacht hast, Tobias!

So, nun werde ich mal meine Notizen ins Reine schreiben und dann kann es losgehen mit der Geburt von «Storm Energie», dem fiktiven Windparkbetreiber, in dem es in meinem neuen Roman gehen soll.

P.S.: Ich habe übrigens ordentlich Muskelkater von den zwölf mal sechs Metern Leiter rauf und wieder runter. Lach! Im Gegensatz zu mir sind die Jungs, die täglich auf diese Anlagen klettern, fit wie Turnschuhe.